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Warum HEMA? Warum Kämpfen?

Ein Vergleich - Warum sollte Kampfkunsttraining erstrebenswert sein?

Autor: Kolja Klein

„Sport ist Mord” sagt der Volksmund. Trotz dieser sarkastischen Weisheit ist jedem Menschen klar, dass eine ausgewogene sportliche Betätigung für die Gesundheit elementar ist. Bewegung hält den Geist fit und den Kreislauf in Schwung. Im Grunde sind die Vorteile des Sports allgemein unbestritten. Aber es kommt die Frage auf, in welcher Form und wie viel Bewegung tatsächlich gut ist für den Körper. Besonders muss man sich fragen, warum ausgerechnet Bewegungen, die eigentlich ausgeführt werden, um andere zu verletzen, geeignet wären, die guten Seiten des Sports umzusetzen. Das Verletzungsrisiko im Kampfsport scheint enorm. Hinzu kommt, dass Kampfsport oder Kampfkunst direkt mit der Ausübung von Gewalt zu tun hat, was in einer aufgeklärten Gesellschaft kein adäquates Mittel der Konfliktbewältigung ist.

Die Frage was eine Kampfkunst als Sport erstrebenswert macht, ist also für mein Thema elementar.

Im folgenden gilt es dabei 2 Dinge zu klären:

  • Was wird im Training einer Kampfkunst gefördert, was man nicht auch ohne den Aspekt der Gewalt fördern könnte?
  • Worin sind eventuell die Vorteile die Ausübung der Gewalt in kontrollierter Form zu trainieren?

Um das zu beleuchten, möchte ich einen einfachen stereotypischen Vergleich zu ein paar Vertretern anderer Sportarten anstellen. Dabei vergleiche ich bewusst mit Kampfkünsten, da ich vom Kampfsport differenzieren möchte. Während im Kampfsport ein Regelssystem die Anwendbarkeit von Aktionen mitbestimmt, ist in einer Kampfkunst der Grundkontext der Kampf, in dem grundsätzlich mehr erlaubt wäre.

Als erstes definiere ich Eigenschaften, welche für das Ausüben einer Kampfkunst benötigt werden. In einem zweiten Schritt gehe ich in wenigen Worten auf jeden Vergleich ein. Als letztes möchte ich auf die Besonderheiten des Kampfsportes aufmerksam machen, und ein paar Worte über Vorurteile sagen.

Was braucht man um Kampfkünste erfolgreich auszuführen:
Kendo - flickr.com

Kampfkünste, besonders waffenlose, beanspruchen für gewöhnlich den ganzen Körper und konzentrieren sich nicht auf die Beine oder Arme allein. Kraft und Ausdauer wird im ganzen Körper gefördert, ohne dass ein bestimmter Körperteil fokussiert wird. Bemerkenswert ist, dass von den vielseitigen Bewegungen besonders die Muskelgruppen profitieren, welche z.B. durch andauernde Unterforderung (viel Arbeiten im Sitzen) untertrainiert sind.

Die häufig schnell ausgeführten Bewegungen trainieren die Schnellkraft und die Hand-Augen Koordination. Im Training oder Freikampf arbeiten die Muskeln meist anaerob, da immer nur kurze Phasen von Anstrengung stattfinden. Als Ausdauer bezeichnet man dabei, die möglichst schnelle Regeneration zwischen den Anstrengungen bis hin zu einer fast konstanten Leistungsumsetzung.

Durch die häufigen Wechsel von schnellen und langsamen Bewegungen ist eine gute Wahrnehmung für den eigenen Körper (Balance, Tiefensensibilität) sowie eine entsprechend ausgebildete Bewegungsschule notwendig.

HEMA - getc.ch

Eine sehr gute Kraftkontrolle ist besonders bei Partnerübungen bzw. im Freikampf von Vorteil, da man sich immer der Situation und der Aktion des Gegners anpassen muss. Aktion und Reaktion interagieren, da die Situation von mehren Akteuren beeinflusst wird. In diesen sich ergebenden Situationen ist die mentale Präsenz und Stärke von grosser Bedeutung, denn es gibt nicht viel Raum für Ablenkungen oder Schwächen. Emotionale Kontrolle spielt eine enorme Rolle, um den Moment im Jetzt wahrzunehmen. Andernfalls fehlen dem Anwender Informationen die benötigt werden, um richtig zu reagieren und die Situation zu seinen eigenen Gunsten zu beeinflussen.

HEMA - getc.ch

Dieses Bewusstsein für den Augenblick, verbunden mit der Antizipation der nächsten Handlungen, bedingt die Wahrnehmung mit fast allen Sinnen. Sehen und Hören sind wichtig um die Position des Gegners richtig zu erkennen. Tasten, Balance und Tiefensensibilität werden benötigt, um Informationen über den Gegner zu ergänzen und die eigene Position in Relation dazu einzuschätzen. Einzig der Geschmackssinn wird nicht beansprucht.

Vergleich mit Tanz / Gymnastik / Aerobic
Tanz / Ballet - photoworkers.ch

Beginnen wir den Vergleich mit Tanz, Gymnastik oder Aerobic (im Folgenden wird nur Tanz genannt). Zuerst fallen die Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fällen wird der ganze Körper aktiviert und trainiert. Es wird jeweils eine sehr gute Wahrnehmung der Balance (Körperschwerpunkt) sowie eine gute Bewegungsschule mit Sinn für Präzision benötigt. Tanz übt darüber hinaus häufig sogar noch exaktere und komplexere simultane Bewegungen. Natürlich sind auch Präsenz und emotionale Kontrolle im Tanz von Belang. Dem Tanz fehlt aber das reaktive, die Anpassung an einen Gegner. Wahrnehmen muss man im Tanz primär den eigenen Körper und den Rhythmus. Tanz ist tendenziell eher geplant, während Kampf sich im Verlauf der Aktion mit dem Gegner entwickelt. Es bleibt anzumerken, dass Tanz und Kampf nicht allzu weit entfernt sind, so gleicht eine gute Kata (geplante Abfolge von Techniken Solo oder im Sparring) einer Tanzperformance. Und das Phänomen des „Dance-Battles” (Darstellung eines kontaktlosen Kampfes in Form einer Präsentation von Tanzbewegungen, welche von Umstehenden bewertet werden) zeigt die Verwandtschaften ebenfalls gut auf. Es gibt gar indigene Gesellschaften, welche Kampfübungen in Form von Tänzen entwickelten (z.B. neuseeländische Stämme oder Capoeira).

Ausdauersportarten
Marathon - de.wikipedia.org

Der Unterschied zwischen Kampf und Ausdauersportarten wie Radfahren, Marathon und vielen weiteren Leichtathletiksportarten ist grösser. Ausdauersport ist fast immer fokussiert auf aerobe Leistungsumsetzung - sprich: konstante Ausdauer über lange Zeit. Ausserdem konzentrieren sich die meisten Ausdauersportarten sehr auf einzelne Körperregionen und spezifische Bewegungsmuster, was sich in einseitig trainierten Spezialisten äussert. Bewegungsmuster werden primär anhand der erarbeiteten optimalen Abläufe trainiert. Ein Hammerwerfer hat starke Arme und Schultern, ein Marathonläufer ist drahtig und einen Radsportler erkennt man an seiner Oberschenkelmuskulatur.

Einseitiges Training - Asterix Sieg über Cäsar
Fussball
Fussball - de.wikipedia.org

Im Vergleich mit Fussball fällt auf, dass alles was das Ausüben einer Kampfkunst begünstigt ebenfalls im Fussball vorteilhaft ist. Wichtige Unterschiede: Fussball verlangt grösstenteils aerobe Leistungsumsetzung (mit Ausnahmen), ausserdem wird im Fussball immer im Kontakt über den Ball agiert. Selbst bei einem „Zweikampf” wird um die Kontrolle über den Ball gekämpft, nicht direkt mit dem Gegner (was für gewöhnlich mit einer roten Karte geahndet wird). Besonders am Fussball ist, dass die Füsse, welche für die Fortbewegung und die Balance essentiell sind, auch für die Bedienung des Spielgegenstandes genutzt werden, was eine zusätzliche Herausforderung in punkto Timing und Balance darstellt.

Handball - de.wikipedia.org

Handball, Volleyball und Basketball sind wiederum nicht auf die untere Körperhälfte fokussiert. Im Handball gibt es sehr dynamische Zweikämpfe, welche einem echten Kampf in mancher Weise ähneln. Der Spielgegenstand bleibt aber der Ball. Im Basketball muss man sich als Verteidiger gar vom angreifenden Spieler ohne Fussbewegung umstossen lassen um erfolgreich zu verteidigen, was eine sehr unnatürliche (Nicht-)Bewegung ist. Im Volleyball wird der Kontakt rein über den Ball entschieden. Die Mannschaften sind gänzlich voneinander getrennt, was die Koordination sehr vereinfacht. Bei der mentalen Stärke sowie der Emotionskontrolle sind die Dynamiken durch das Team gänzlich andere, was wahrscheinlich auf alle Mannschaftssportarten zutrifft.

Sportfechten - de.wikipedia.org

Als letztes noch der Vergleich von Kampfkunst mit dem Sportfechten. Sportfechten entstammt einer Kampfkunst, hat sich aber aufgrund der Reglementierung im Wettbewerb gewandelt. Die Ansprüche an mentale Stärke, Reaktion und Interaktion sind natürlich dieselben, wie in einer Kampfkunst. Aber definierte Trefferzonen führen zur Bevorzugung gewisser Bewegungen und Haltungen, welche teilweise ergonomisch extrem einseitige Belastungen für den Körper darstellen. Der Ausfallschritt (sehr fordernd für das Knie) wird aufgrund der Einschränkung auf die eindimensionale Bewegung auf einer Bahn elementar. Die explosiven Elemente des Kampfes, wenn es darum geht den Gegner zu überrumpeln, eine Aktion vorzubereiten oder zu verstecken, gibt es nach wie vor. Jedoch ist dieser Sport, der ursprünglich aus einer sehr vielseitigen Kampfkunst entstand, heute durch Reglemente im Wettkampf, auf die sich dadurch ergebenden optimalen Taktiken, reduziert.

Fazit des Vergleiches

All diese Sportarten tragen auf die eine oder andere Weise alles in sich, was auch eine Kampfkunst fördert. Warum sollte man also das Kämpfen trainieren und nicht eine der anderen Sportarten?

Beim erfolgreichen Ausüben einer Kampfkunst muss ich mental absolut in meiner Mitte stehen. Die Wahrnehmung des Moments, des eigenen Körpers, des Gegners und der Umgebung ist entscheidend für die richtige Reaktion. Man ist auf seine Sinne und die eigene Konzentration auf eine Art angewiesen wie in keiner anderen Sportart. Alle Bewegungen werden bis zum physikalischen Limit hin trainiert, wobei aber Effizienz und Kontrolle weit wichtiger als die reine Kraft oder Geschwindigkeit sind. Der Facettenreichtum aufgrund des sehr offenen Settings wiederum sorgt für eine Vielseitigkeit, die ihresgleichen sucht. Erst wenn ich die Situation wahrnehme, mir zu eigen mache und anschliessend in dieser Situation agiere, um eine neue, für mich erstrebenswerte Situation zu erzeugen, kann ich erfolgreich kämpfen. Und aus dieser erfolgreichen Manipulation einer Situation kann Selbstwirksamkeit direkt und unmittelbar erlebt werden.

Teamfähigkeit? - stackoverflow.com

Der heutige Arbeitsmarkt fordert in vielen Bereichen Teamfähigkeit und Kooperationsfähigkeit. Natürlich ist es naheliegend, dass diese Fähigkeiten in Mannschaftssportarten besonders gefördert werden. Ich möchte dabei aber anmerken, dass es ebenfalls sehr gut möglich ist sich in einem Team hinter dessen Leistung zu verstecken. Erst wenn der Einzelne für sich selbst einstehen muss, kann er diese Kraft auch dem Team zur Verfügung stellen. Dafür wiederum ist das Kampfkunsttraining in der Gruppe besser geeignet als der Wettkampf als Mannschaft, denn in der Gruppe wird noch klar zwischen den Individuen und deren Agieren in der Gruppe unterschieden. Die Stärken und Schwächen der Einzelnen werden erkannt, und die gegenseitige Unterstützung und Anpassung an die Fähigkeiten des anderen fordert ein enormes Mass an Kooperation. Das gemeinsame Ziel ist dabei, dass jeder besser wird, denn ein besserer Trainingspartner fordert einen selbst mehr und wirkt als Katalysator für das eigene Training. Dies ist ein langfristiges gemeinsames Ziel, dass die Gruppe eint und den Teamgeist befeuert. Es wird am Ende also nicht das Kollektiv bewertet, sondern die Summe der einzelnen Individuen.

Vorurteile
Schlägerei - de.wikipedia.org

Der Alltagsbezug scheint in unserer heutigen Zeit erst einmal abwegig, wo doch Gewaltausübung an sich keine wünschenswerte Aktivität ist. Besonders körperliche Gewalt wird im Allgemeinen geahndet und verurteilt. Häufig hören Kinder nur „Du darfst nicht hauen!” und ähnliche Sätze. Aber wie jeder bereits erlebt hat, kommt der Moment, in dem man emotional aufgewühlt eine Ungerechtigkeit erlebt hat und Worte einfach nicht mehr reichen. Aufgrund des eingeschränkten Erfahrungshorizontes mit Gewalt, wodurch es in der Eskalation keine Grenzen mehr gibt. Es wird weitergetreten, wenn einer am Boden liegt. Es wird auf den Kopf gezielt. Es gibt keine Tabus mehr. Die Handlungen finden in der Ohnmacht des Affekts statt.

Im Training einer Kampfkunst kann genau hier angesetzt werden und ausserhalb des Gewaltkontextes in einem Miteinander an Erfahrungen und den damit verbundenen Tabus gearbeitet werden. Natürlich könnte man dagegen argumentieren, dass gewaltaffine Menschen hier noch gefährlicher werden. Tatsächlich ist es aber so, dass durch den steten Perspektivenwechsel im Training und die bessere Einschätzbarkeit von grenzwertigen Handlungen diese Personen tendenziell eine reflektiertere Haltung zur Ausübung von Gewalt entwickeln. Im Besonderen wird dabei im Training auch das Äussern und das Respektieren von Grenzen thematisiert, wo in den Übungen der persönliche Raum tangiert wird und somit das gegenseitige Vertrauen zentral ist. In diesem geschützten Rahmen können Erfahrungen mit Gewalt in einer Dimension erfahren werden, wie sie sonst nicht akzeptiert werden.

HEMA - getc.ch

Zusammengefasst: In fast allen Sportarten finden sich vielseitige Anforderungen in der Ausübung, und natürlich bietet jede Sportart eine Menge guter Argumente, die für sie sprechen. Die Besonderheiten spielen im Vergleich eine Rolle, aber am Ende bleibt es den persönlichen Präferenzen geschuldet, warum eine gewisse Sportart schliesslich ausgeübt wird. Die persönliche Vorliebe hängt auch direkt mit der Motivation zusammen, wodurch im Endeffekt dieser ganze Vergleich meiner Meinung nach für die Entscheidungsfindung sekundär ist. Ich persönlich habe in der Thematik der Kampfkunst des HEMA-Fechtens meine Heimat gefunden.

Als letztes möchte ich anmerken, dass das Verletzungsrisiko in fast jeder Ballsportart grösser ist als im Kampfsport / in der Kampfkunst. Der Grund ist einfach: Beim Ausüben potenziell gefährlicher gegeneinander gerichteter Handlungen ist das Verletzungsrisiko sehr präsent und die Wahrnehmung dessen eminenter Teil des Trainings. Wir trainieren und kämpfen im sportlichen Kontext miteinander, nicht gegeneinander. Diese Wahrnehmung der Verletzungsgefahr ist in anderen Sportarten nicht so gross, weshalb dort tendenziell eher Unfälle passieren. Die Statistiken sprechen für sich:

Unter 4% aller Sportunfälle 2016 geschahen im Kampfsport. (KSUV, 2016)

Das Trainieren von Kampfkunst ist in sich nichts verwerfliches, und gesellschaftlich akzeptiert. Wichtig dabei ist, dass es nicht immer etwas mit Selbstverteidigung zu tun hat, und das Ausüben von Gewalt dabei für viele nicht die zugrundeliegende Motivation ist.

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